Über die Zukunft des Bauwesens

„Alle Beteiligten werden Gewinner sein“

Über die Zukunft des Bauwesens. Ein Gastbeitrag von Dr. Jan Tulke

Die Zukunft des Bauwesens ist eng verknüpft mit drei Buchstaben: BIM (Building Information Modeling). Dahinter verbirgt sich die Vision, den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes oder einer Infrastrukturmaßnahme – vom ersten Federstrich über die Planung, Errichtung und das Betreiben bis hin zum finalen Abriss – mit digitalen Modellen zu unterstützen. Das klingt momentan noch wie Zukunftsmusik. Dennoch dürfte kein Weg daran vorbeiführen, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft mit einem simplen Klick sämtliche Informationen über ein Projekt bekommen können, die wir benötigen. Ist BIM alternativlos? Meiner Meinung nach: Ja. Man tut gut daran, sich mit dem Thema, welches das Bauwesen tiefgreifend verändern, wenn nicht gar revolutionieren wird, intensiv auseinanderzusetzen.

Digitalisierung geht alle an

Nachdem Deutschland den Startschuss ins digitale Bauzeitalter weitgehend verschlafen hat, ist man inzwischen auf einem guten Weg. Die Branche ist heterogen und kleinteilig. Neben einigen internationalen Konzernen ist sie geprägt von kleinen und mittelständischen Unternehmen. So unterschiedlich sie auch sein mögen, eines ist allen auf dem Markt tätigen Firmen gemeinsam: Die Digitalisierung geht sie alle an.

Unsere Gesellschaft unterstützt diese Entwicklung aktiv: Im Dezember 2015 stellte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) den von pb4.0 entwickelten Stufenplan „Digitales Planen und Bauen“ vor. Mit diesem Plan haben wir nicht nur erstmals ein breites Bewusstsein für die Thematik geschaffen. Der Plan hat außerdem zur Folge, dass ab 2020 alle Bundesprojekte der Verkehrsinfrastruktur BIM-basiert realisiert werden müssen. Der öffentliche Auftraggeber geht demnach als Impulsgeber voran. Es wird künftig eine klare Nachfrage nach BIM geben. Wer sich nicht rechtzeitig kümmert, auf dem Stand der Dinge zu sein, wird es mittelfristig schwer haben, sich am Markt zu behaupten. Auf der anderen Seite ermöglicht es der Stufenplan mit den zahlreichen Pilotprojekten, sich rechtzeitig darauf einzustellen und die neue Arbeitsweise mitzugestalten.

Die Vorteile von BIM liegen auf der Hand. BIM führt zu einem besseren, tieferen Verständnis des Projekts und der Projektzusammenhänge. Traditionell ist es so, dass Fachplaner diverse Fachaspekte bearbeiten, die jeweils unterschiedliche Disziplinen betreffen. Mit anderen Worten: Jeder Planer fertigt seine eigenen Unterlagen an. Um ein Projekt wirklich zu verstehen, muss man alle Facetten zusammentragen und verknüpfen. Ansonsten ist man nicht in der Lage, Lösungsvarianten und Optimierungen zu entwickeln. Es erfordert einen hohen mentalen Aufwand – von der investierten Zeit gar nicht zu reden –, um die verschiedenen Informationen zum Big Picture zu verbinden. Das ist die grundlegende Idee bei BIM: Dass die Informationen der Teilmodelle automatisch integriert werden. Das Big Picture entsteht dann gewissermaßen von alleine. Die Informationen der verschiedenen Projektbeteiligten vorab entsprechend zu strukturieren und zu koordinieren, ist eine gewaltige Aufgabe. Sich ihr zu stellen, zahlt sich doppelt und dreifach aus – alle Beteiligten, das ist meine feste Überzeugung, werden Gewinner sein.

Auftraggeber bestellen Computermodelle

Derzeit sind wir mit Hilfe von Pilotprojekten dabei, herauszufinden, wie Auftraggeber auf der einen Seite und Auftragnehmer auf der anderen mit BIM umgehen können beziehungsweise sollten. Künftig wird es so sein, dass ein Auftraggeber nicht nur ein Bauprojekt bestellt, sondern auch die dazugehörigen Daten. Das ist fundamental neu. Bislang ging es vorrangig um Pläne, die bestimmten Anforderungen unterliegen. Mit BIM bestellt der Auftraggeber ein Computermodell, in dem alle relevanten Daten strukturiert abgelegt sind.

Aktuell befinden wir uns in einem wechselseitigen Lernprozess. Der Auftraggeber muss sich fragen: Welche Daten brauche ich? Und in welcher Detailtiefe? Und wie müssen sie strukturiert sein? Um genau diese Fragen kreisen die Pilotprojekte. Zwar gibt es zahlreiche Richtlinien und Normen. Aber welche Informationen brauche ich darüber hinaus? Oder kann ich sie aus dem Modell ableiten? Und wie sind sie aufzubereiten? Dem Lernprozess auf der Seite des Auftraggebers entspricht ein Lernprozess auf der Seite des Auftragnehmers. Beide befruchten sich gegenseitig: Der Auftraggeber lernt durch die Rückfragen des Auftragnehmers, der wiederum durch die Anforderungen des Auftraggebers lernt. Ich kann alle Akteure aus der Bauwirtschaft nur ermuntern, sich an dem Lernprozess zu beteiligen und ihn mitzugestalten. Denn die Fragen, wie die Daten geliefert werden und wie sie zweckmäßig strukturiert zu sein haben, führt am Ende zu Standards. Sie ergeben sich im Arbeitsalltag und aus Best-Practice-Lösungen – was sich in der Praxis bewährt, wird Standard. Und Standard bedeutet: Zeitersparnis, geringere Fehleranfälligkeit und bessere Datenqualität.

Partnerschaftlich zusammenarbeiten

Daraus ergibt sich folgendes: Das Arbeiten mit BIM erfordert ein partnerschaftliches, kooperatives Miteinander der Projektbeteiligten. Wie ausgeführt, ermöglicht BIM zum einen ein tieferes Projektverständnis. Zum anderen sorgt BIM für eine größere Transparenz, für eine schnellere, bessere Einsicht in das komplexe Zusammenspiel der Fachdisziplinen. Das ist – aus meiner Sicht – der wichtigste Vorteil, den BIM mit sich bringt.

Die Fachgewerke koordinieren sich anhand des Modells. Wechselseitige Abstimmungen sind nötig. Die an dieser Stelle oftmals geäußerte Befürchtung, kostbares Know-how preiszugeben, ist nur bedingt berechtigt. Denn die Prozesse, die man zum Beispiel gefunden hat, um ein Problem zu lösen, braucht man nicht weiterzugeben. Hier hilft der offene Datenstandard: Man gibt das Modell in einem standardisierten Format weiter und kann auf diese Weise steuern, welche Daten in das Modell einfließen. Deshalb glaube ich nicht, dass ein Unternehmen durch BIM einen Wettbewerbsvorteil einbüßt. Es ist genau andersherum: Wer die neuen Möglichkeiten nutzt, um Prozesse zu automatisieren, profitiert von der Zusammenarbeit. Man gewinnt an Wissen, vermeidet Doppelarbeit und Fehler – und hat genau dadurch einen Wettbewerbsvorteil.

Automatisierungsgrad erhöhen

Liegt das digitale Modell eines Bauprojekts erst einmal vor, lässt es sich wunderbar zur weiteren Effizienzsteigerung nutzen. Aus dem einfachen Grund, weil es nicht nur von Menschen, sondern auch von Maschinen verstanden wird. Mit anderen Worten: Man kann das Modell verwenden, um den Automatisierungsgrad weiter zu erhöhen. Daraus ergeben sich ganz neue Geschäftsmodelle: So können Firmen zum Beispiel Objektbibliotheken zur Mengenermittlung anbieten, für deren Nutzung man zahlt. Das Know-how lässt sich so zum Geschäftsmodell machen.

Es eröffnet sich ein wahrer Horizont an möglichen neuen Geschäftsmodellen. Man denke an den 3D-Druck des Rohbaus von Gebäuden. An Fahrbahnmarkierungsroboter. An Assistenzsysteme im Bagger, die automatisch mitteilen, wie tief man im Boden ist, wie tief man noch muss und wo Leitungen verlaufen, auf die aufzupassen ist. Ein Maurer könnte prüfen, ob er sich mit einem Maschinenbauer zusammenschließt und einen Mauerwerksroboter entwickelt, den man künftig gemeinsam vertreibt oder vermietet. Die Entwicklung, die wir in der Bauwirtschaft registrieren und vorantreiben, bietet viele neue Möglichkeiten. Wie bereits im Consumer-Bereich werden Virtual Reality und Augmented Reality eine immer größere Rolle in der Bauwirtschaft spielen. Es gilt, dies als Chance zu begreifen.

Planer können Zusatzleistungen übernehmen

Planer haben künftig die Möglichkeit, weitere Zusatzleistungen zu übernehmen. Ich habe von Unternehmen gehört, die bislang einen großen Bogen um Bauphysik gemacht haben, weil das Gebiet für ein nicht-spezialisiertes Büro zeitaufwendig war und man entsprechendes Personal brauchte. Nun bieten sie Bauphysik mit an – die modellbasierte Softwareunterstützung macht’s möglich! Auch können Planer schon in frühen Phasen Zusatzleistungen liefern, etwa spezielle Simulationen wie die Energiebedarf-, Licht- und Klima-Simulation. Denkbar sind außerdem neuartige Kooperationsmodelle: Früher war es gang und gäbe, dass man bei nahezu jedem Projekt mit anderen Partnern zusammenarbeitete. Das Nutzenpotenzial aus BIM führt dazu, dass sich – zumindest mit Blick auf den privatwirtschaftlichen Bereich – teilweise strategische Allianzen zwischen Bauunternehmen und Planern bilden. Dass man sich sagt: Wir haben unsere Arbeitsabläufe mittlerweile so gut aufeinander abgestimmt, dass es sinnvoll ist, häufiger zusammenzuarbeiten, anstatt sich immer wieder auf neue Partner einstellen zu müssen.

Wer einmal mit BIM gearbeitet hat, entdeckt die Vorteile sofort. Eine Rückkehr in die Zeit der Papierpläne erscheint vor diesem Hintergrund als Rückschritt. Dringlicher denn je müssen deshalb im Unternehmen Prozesse und digitale Werkzeuge aufeinander abgestimmt werden. Wo können wir optimieren, wo neu strukturieren? So etwas kann die Unternehmensleitung nicht alleine beschließen. Dies erfordert das Mitwirken aller im Unternehmen. Die Managementebene muss die Entwicklung unterstützen, indem sie zeigt, dass es sich bei der Digitalisierung um eine strategische Entscheidung handelt und das Beschreiten neuer Wege gewünscht ist.

Die Bauwirtschaft verändert sich in einem noch nie gesehenen Tempo. Die Frage, ob durch die neuen Technologien neue Arbeitsplätze entstehen oder Arbeitsplätze ersatzlos wegfallen, lässt sich, denke ich, nur so beantworten: Es ist sicher, dass einfache Arbeiten automatisiert werden. Und dass wir mehr höher qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen. Deshalb heißt für Arbeitgeber das Gebot der Stunde: Finde und schule die Mitarbeiter, die die Entwicklung aktiv mitgestalten möchten.

Dr. Jan Tulke ist seit 2016 Geschäftsführer der planen-bauen 4.0 GmbH. Zuvor war er in verschiedenen Funktionen für HOCHTIEF tätig, etwa als Leiter Forschung & Produktentwicklung/BIM Beratung bei der HOCHTIEF ViCon GmbH.

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