„Eine gigantische Leistung“
Ortstermin Rheinufertunnel Düsseldorf
Ein Gespräch mit Cornelia Zuschke, Planungsdezernentin in Düsseldorf, und Norbert Schüßler über die Strahlkraft des Rheinufertunnels und die Zukunft der Stadtplanung
Frau Zuschke, könnten Sie skizzieren, was den Tunnel für Düsseldorf so besonders macht?
Cornelia Zuschke: Im Herbst 2017 war ich bei einer internationalen Tagung in Amman, Jordanien. Es ging um die Rückgewinnung des öffentlichen Raums. Viele Weltstädte waren vertreten, von Vancouver über Bogota und Wien bis hin zu bedeutenden, vom Krieg zerstörten Städten in Vorderasien. Und eben Düsseldorf. In meinem Vortrag habe ich die Rückgewinnung des öffentlichen Raums am Beispiel von Düsseldorf dargestellt – beginnend beim Rheinufertunnel und weiterführend über Kö und Co. bis hin zu allen innerstädtischen Verdichtungsprojekten. Der Rheinufertunnel ist in mehrfacher Hinsicht eine große Leistung.
Warum?
Cornelia Zuschke: Er entstand zu einer Zeit, als in den Städten noch fröhlich am Fluss entlanggefahren wurde oder dort Gewerbe war. Düsseldorf hat damals einen sehr konsequenten Schritt getan, indem man sagte: Verkehr unter die Erde, die Stadt kehrt an den Fluss zurück. Aber man hat noch mehr gemacht, man hatte einen hohen Qualitätsanspruch. Man wollte das Areal neu bespielbar machen, für Radfahrer, für Skater, für alle, die aktiv sein oder einfach spazieren gehen wollten. Denken Sie an die Kasematten oder die obere Ebene mit den Grünfeldern. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich glaube, Düsseldorf hätte sich zum Beispiel die Wehrhahn-Linie nicht zugetraut, wenn man vorher nicht erfolgreich den Rheinufertunnel gebaut hätte. Insofern ist es nicht übertrieben, von einem Jahrhundertbauwerk für unsere Stadt zu sprechen.
Herr Schüßler, war Ihnen beim Bau bewusst, dass das Projekt eine solche Strahlkraft haben wird?
Norbert Schüßler: Wenn man als Bauingenieur damit befasst ist, sieht man das zunächst einmal mit einer sehr technischen Brille. Aber bewusst war mir das natürlich schon. Als der Tunnel in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre geplant wurde, arbeitete ich in München. Mit Beginn der Baumaßnahme 1990 bin ich in meine Heimatstadt Düsseldorf zurückgekehrt und habe dort die ganze städtebauliche Wirkung des Projekts unmittelbar vor Ort mitbekommen. Man muss bedenken, dass wir ja nicht nur den Rheinufertunnel gebaut, sondern insgesamt circa 27 Hektar Stadtfläche bearbeitet haben, die Auswirkungen reichen bis tief in den Stadtteil Bilk. Man kann die Bedeutung auch gut an Zahlen ablesen: Meiner Meinung nach hat der Rheinufertunnel Milliarden an Investitionen hier in Düsseldorf zur Folge gehabt, ungeachtet der Tatsache, dass ein Raum entstanden ist, der für die Bürger nutzbar wurde.
Cornelia Zuschke: Der Tunnel mit allem Drumherum ist für die Stadt so etwas wie ein Geschenk an die Allgemeinheit. In der Stadtplanungszeit, in der wir uns heute befinden, wo alles noch dichter und schneller wird und die Menschen noch mehr öffentlichen Raum und Identifikationsorte brauchen, erscheint er noch einmal in einem anderen Licht. Man erkennt noch deutlicher, wie zukunftsweisend er war.
Kann man sagen, der Rheinufertunnel war trendsetzend, was die Rückgewinnung des öffentlichen Raums angeht?
Cornelia Zuschke: Eindeutig, ja.
Norbert Schüßler: Es gab eine Menge Projekte, die dieser Gedankenrichtung folgten. In Mainz oder auch Frankfurt überlegte man, einen solchen Tunnel zu bauen. Nur ist die Stadtsituation manchmal so, dass Dinge, die an dem einen Ort glücklicherweise gelingen, sich an einem anderen nicht realisieren lassen. In Düsseldorf fügte sich ausgesprochen vieles. So haben wir mit dem Tunnel zum Beispiel eine Antwort darauf gefunden, wie sich die Situation am Theresienhospital verbessern lässt. Eine ausgesprochene Engstelle. Ungeachtet der vier Fahrstreifen gab es dort an der Hochwasserschutzmauer einen Bürgersteig, der nicht mal einen Meter breit war. Schon für Fußgänger höchst gefährlich. Daneben vier enge Fahrspuren, auf denen täglich 50.000 Autos fuhren. Mal abgesehen von Lärm und Emissionen – da war kein Grün. Unterirdisch hatten wir hier – zwischen Hochwasserschutzmauer und Theresienhospital – nur 12 bis 15 Meter Breite zur Verfügung. Mit der Konsequenz, dass wir dort einen Doppelstocktunnel gebaut haben. Im Bereich der Rheinkniebrücke konnten wir das wieder auseinanderfädeln und einen kreuzungsfreien Anschluss Richtung Innenstadt und Richtung Süden gestalten. All diese Dinge fügten sich auf eine, ich möchte fast sagen: einmalige Art und Weise.
Cornelia Zuschke: Das betrifft auch das Thema Tiefgarage unter den Geschäftshäusern. Man holt die Stadtnutzer zum Parken unter die Erde und verteilt sie dort, damit sie nicht oben in der engen Stadt ihren Weg suchen müssen. Diese Dichte an Funktionen und Dynamik im Jetzt ist in meinen Augen beispiellos.
Gibt es ein Detail am Rheinufertunnel, das Sie besonders begeistert?
Cornelia Zuschke: Was mich gruselt und zugleich begeistert, ist die bauliche Nähe zum Wasser. Wenn ich dort unten fahre und mir vorstelle, dass neben mir der Rhein fließt, dann ...
Norbert Schüßler (lacht): Er fließt fast oberhalb des Tunnels.
Cornelia Zuschke: Dann gruselt es mich noch mehr – und begeistert zugleich durch die bauliche Kompetenz. Ich finde es eine sehr große Leistung, auf der einen Seite die dichte Stadt zu haben, wo große Volumina stehen – denken Sie nur an das Stadttor –, und auf der anderen Seite das Wasser, den Rhein – und dazwischen ein solches ausgefeiltes Bauwerk längs zum Fluss zu platzieren. Das ist schon eine gigantische Ingenieurleistung. Nicht zu vergessen, wenn ich das noch anfügen darf: die Verteilerstruktur an Zufahrten und Kreuzungen.
Norbert Schüßler: Der Knoten an der Rheinkniebrücke ...
Cornelia Zuschke: Der ist phänomenal!
Norbert Schüßler: Wenn man von Norden kommt und in die Stadt möchte, muss man links ausfädeln.
Cornelia Zuschke: Sehr ungewöhnlich, aber effektiv und einfach.
Norbert Schüßler: Kann man so sagen. Und wenn man dann noch weiß, dass da weitere Röhren verlaufen, um den Anschluss Richtung Süden zu realisieren – also, das ist ein Gewirr von Tunnelbauwerken in unterschiedlichsten Höhenlagen. Der Bereich Rheinkniebrücke war im Übrigen die größte Tertiärbaugrube. Solche Baugruben reichen bis in die wasserundurchlässigen Schichten, sodass Sie praktisch kein Wasser in der Grube haben. Und alles unmittelbar neben den Fundamenten der Rheinkniebrücke. Technisch sehr, sehr anspruchsvoll. Aber zurück zu der Frage: Ich würde sagen, der Rheinufertunnel ist eine Ansammlung von Highlights. Man kann jetzt nicht eines hervorheben, es gibt eine Vielzahl. Das fängt beim Technischen an, von der Unterwasserbetonsohle bis zur Druckluftbaustelle. Die großen Tertiärbaugruben mit ihren Besonderheiten, die Deckelbauweise, die wir im Bereich Dammstraße gemacht haben, bis hin zu den Engstellen. Der Rheinufertunnel ist insgesamt etwas Besonderes.
Cornelia Zuschke: Und es ist ja nicht nur der Tunnel. Wir haben ihn quer zum Grundwasser liegen. Das Grundwasser fließt vom Land zum Fluss, und da wird dann eine große Barriere gebaut. Das braucht technische und umweltbezogene Kompensation.
Norbert Schüßler: Eben nicht als Barriere.
Cornalia Zuschke: Richtig. Damit es keine Barriere wird, braucht es kompensierende Details, die es in sich haben. Als Laie mag man sich das gar nicht vorstellen, dieses ganze System: fließendes Grundwasser, stauendes Grundwasser. Das muss weiter funktionieren, obwohl da ein riesiges Band mittendrin liegt. Auch diese Frage ist faszinierend: Wie schaffe ich es, dass ein ganzes System aus Stadt, Baugrund, Erde und Grundwasser weiter funktioniert, obwohl ich es in diesem Maße störe? Das ist, noch einmal, eine multidimensionale Leistung.
Norbert Schüßler: An der Universität Bochum wurde damals ein besonderes Grundwassermodell angefertigt, das es vorher in der Form nicht gab.
Cornelia Zuschke: Und dann haben wir da seit Ende der 50er-Jahre auch noch das Mannesmannhochhaus stehen. Damit hatte der Nachkriegsbauboom begonnen. Mittlerweile stehen hier viele mächtige Gebäude. Wenn ich in diesem engen Geflecht von Bauten die Geschwindigkeit des Grundwassers erhöhe, kann es sein, dass Bodenschichten weg- oder aufschwemmen. Darauf muss bereits im Vorfeld reagiert werden, denn für den Bestand darf sich nichts ändern. Ich muss die gesamte umgebende Bebauung mitdenken. Das sind Dinge, die ich bewundere, zumal wir ja heute, zweieinhalb Jahrzehnte später, mit der Technik viel weiter sind.
Wie wurde der Doppeltunnel gebaut?
Norbert Schüßler: Im Schutz der Druckluft. Die obere Tunnelröhre war fertig, links und rechts standen bereits die Schlitzwände. Nach unten war vereinfacht gesprochen alles offen. Da sollte jetzt die andere Tunnelröhre rein. Problem: Wie bekommen wir das Wasser weg? Antwort: Mit Hilfe von Druckluft. 1,1 bar. Bei entsprechendem Wetter hat sich auf der Tunneloberfläche dann das Wasser gesammelt, in dem sprudelnde Blasen der Druckluftbaustelle aufstiegen. Ein skurriles Bild, das ärgste Befürchtungen einzelner Bürger hervorrief: Hilfe, hier ist alles undicht! Was natürlich so nicht stimmte.
Frau Zuschke, Sie sind seit 2016 Planungsdezernentin in Düsseldorf. Haben Sie mitverfolgt, als der Tunnel 1993 eröffnet wurde?
Cornelia Zuschke: Ja. Ich bin zu einem sehr frühen Zeitpunkt hier gewesen. Es muss 1990 gewesen sein. Ein Verwandter hatte mir gesagt: Abgesehen von der Kö musst Du diese Tunnelbaustelle sehen! Die Düsseldorfer waren sehr stolz darauf.
Norbert Schüßler: Wir haben am 15. März 1990 mit den Arbeiten angefangen. Die erste Maßnahme bestand übrigens darin, einen Kran aufzustellen – mit den Schildern der Baufirmen.
Angesichts der Komplexität der Aufgabe ist es geradezu unglaublich, dass er innerhalb von knapp vier Jahren fertiggestellt wurde.
Norbert Schüßler: Das war extrem schnell. Man muss dazu aber sagen: Wir waren ein gutes Team. Die Stadt Düsseldorf mit ihrer Fachkompetenz und wir mit der unsrigen, federführend in der Ingenieurgemeinschaft Tieflegung Rheinuferstraße. Als wir am 15. März 1990 anfingen, hat der Projektleiter der Stadt, Herr Waaser, gesagt, am 15. Dezember 1993 geht der Tunnel in Betrieb! Da haben wir Wort gehalten.
Cornelia Zuschke: Das würden Sie heute nicht mehr schaffen. Heute müssen Sie unterwegs so viele Einzelnachweise erbringen und so viele Neubewertungen von Kosten einholen – so wie damals geht das heute nicht mehr.
Norbert Schüßler: Ich würde nicht in Abrede stellen wollen, dass es auch heute noch grundsätzlich möglich wäre. Die Arbeit muss natürlich gut vorbereitet sein, was bei manchen Projekten heute leider nicht immer der Fall ist. Die Vorbereitungszeiten werden immer kürzer, die Genehmigungsphasen dafür länger. Das macht die Sache angespannter, was am Ende auch die Kosten betrifft.
Frau Zuschke, wir haben vorhin vom Trend der Rückgewinnung des öffentlichen Raums gesprochen. Was kennzeichnet für Sie eine attraktive Großstadt von heute?
Cornelia Zuschke: Auf der einen Seite: eine hohe urbane Dichte, ein guter Mix, und alles nah beieinander: Wohnen, Arbeiten, Kultur, Handel, Versorgungseinrichtungen, Infrastruktur – alles, was dazugehört. Andererseits, dass alle Verknüpfungsräume eine hohe Aufenthaltsqualität haben und im Sinne von Lebensraum nutzbar sind. Das gilt auch für Transiträume. Deshalb bin ich ja auch ein Fan vom Rheinufertunnel: Er hat nicht nur öffentlichen Raum freigemacht, sondern auch eine Identifikationsmeile zwischen Stadt und Fluss geschaffen. Eine moderne Großstadt braucht etwas Eigenes, das nur sie allein hat – und in Düsseldorf ist es das Zusammenspiel von Rhein und Stadt.
Hand aufs Herz: Welches sind in Düsseldorf die nächsten Jahrhundertprojekte?
Cornelia Zuschke: Ich würde lieber von Meilensteinen sprechen. Ein nächster Meilenstein wäre eine neue Mobilität, die einer urbanen, modernen Großstadt auf den Leib geschneidert ist und die einhergeht mit der rechten Durchmischung. Wir verabschieden uns gerade von der sektoralen Stadt, in der Leben und Arbeiten getrennt waren, wo man sich ins Auto setzte, um zur Arbeit zu fahren oder um einzukaufen. Heute haben wir die integrative Stadt. Die Digitalisierung spielt in dem Zusammenhang eine herausragende Rolle. Dann die Parkraumgestaltung und – noch einmal – die Rückgewinnung des öffentlichen Raums durch multifunktionale öffentliche Räume. Wenn wir mehr „auf der Straße leben“ und unseren Aufenthalt dort genießen können, sind wir bereit, mit weniger Wohnraum zurechtzukommen. Das alles sind Meilensteine, und die bekommen wir auch hin. Ein Jahrhundertprojekt wäre für mich, neben dem Wettbewerb zum „Blaugrünen Ring“ der Kulturmeile die Mobilität zu switchen. Das heißt: Wir wollen eine fußgänger- und fahrradgerechte Stadt. Wir wollen ÖPNV, aber Individualverkehr bleibt. Wir wollen auch in Straßenräumen Lebensqualität gewinnen. Das mündet in ein Riesenanliegen: das Thema der gesunden Stadt. Ich wünsche mir bei neuen Quartieren und Bauwerken höchste Qualität, deshalb „Raumwerk D“ und ein neuer Hochhausplan.
Haben Sie in der Hinsicht Vorbilder?
Cornelia Zuschke: Als Vorbild kann Kopenhagen mit seinen Schnellwegen für Rad und ÖPNV dienen. Man muss das Verkehrsnetz heute ganz anders denken als früher. Eine durchmischte Stadt mit kurzen Wegen – wenn man in diesen Kategorien denkt, haben wir große Potenziale mit Blick auf Flächentransformation und -optimierung. Wir werden Landschaftspotenziale in die Stadt einpflegen als Parks und grüne Achsen, damit die Menschen sagen: Ich will gar nicht mehr raus. Ich will die Wege, die ich täglich gehe, als gut und erholsam erleben. Darin liegt eine große Chance – wir brauchen keine monofunktionalen Strukturen mehr. Auch das Thema ökologische Stadt ist interessant. Und dann ist da noch die Baukultur! Dafür braucht es natürlich die entsprechenden Ingenieure.
Norbert Schüßler: Gott sei Dank! (lacht)
Sie haben, Frau Zuschke, Architektur in Weimar an der Bauhaus-Universität studiert. Auf welche Bauhaus-Einflüsse darf man sich in Düsseldorf freuen?
Cornelia Zuschke: An der Bauhaus-Uni hat man uns eingebläut: Qualität, Qualität, Qualität. Es darf nichts unversucht bleiben, die Qualität des Gebauten zu erhöhen. Das bedeutet, dass bei einem Bauwerk immer auch die ingenieurtechnische Seite mitgedacht werden muss, damit sich Architektur und Ingenieurbaukunst zu einem Ganzen verbinden. Dass es ein Gesamtkunstwerk ist aus einem handwerklichen, ingenieurtechnischen Ansatz und dem gestalterischen Wert. Wir müssen immer ingenieurtechnisch mitdenken.
Norbert Schüßler: Da sind wir beim Baumeister der alten Prägung.
Cornelia Zuschke: Genau. Etwas ein bisschen hübsch zu machen, ist nicht mein Ding. Ich fordere bei jedem Projekt qualitätssichernde Verfahren und Partizipation. Es nützt nichts, politische Beschlüsse zu fassen und sie der Bevölkerung einfach vorzusetzen. Das sind die Paradigmen, die ich mitgenommen habe von der Uni und von den Erfahrungen in verschiedenen Städten, und davon rücke ich nicht ab. Dieses Bild, das immer wieder vermarktungstechnisch bemüht wird: Das da ist „Bauhaus“, weil es eine weiße Fassade und kein Dach hat – vergessen Sie’s, das hat nichts mit Bauhaus zu tun. So reden nur Menschen, die sich das Mäntelchen umhängen, aber im Grunde nichts vom Thema verstehen. Bauhaus ist richtiges Handwerk und solide Ingenieurkunst, freilich mit extrem hohem ästhetischen Anspruch.