„Frankfurt erhält ein neues Stadtquartier“

Ortstermin Europaviertel, Frankfurt am Main

Adrian Jukic und David Meyer (v. li.) auf der Europaallee
Ein Gespräch mit Adrian Jukic, Projektleiter Europaviertel West bei Aurelis, und David Meyer, Projektleiter Schüßler-Plan, über die Kunst, 100 Hektar in der Innenstadt zu erschließen und zu vermarkten, und über die Notwendigkeit, flexibel und kreativ zu sein


Herr Jukic, das ehemalige Bahngelände, auf dem das Europaviertel entsteht, umfasst gut eine Million Quadratmeter. Wie entwickelt man ein derart großes Areal?
Adrian Jukic:
Fangen wir ganz am Anfang an. Das Gelände war der deutschlandweit größte Güter- und Rangierbahnhof der Deutschen Bahn. In den 1990er-Jahren wurde beschlossen, den Bahnbetrieb aufzugeben. 2002 wurde die Aurelis gegründet mit dem Auftrag, ein Portfolio von über 30 Millionen Quadratmetern „ehemals bahnbetriebsnotwendiger Anlagen“ – etwa Güter- und Rangierbahnhofsflächen – in Deutschland zu übernehmen und städtebaulich zu entwickeln. Hier im Europaviertel sind es insgesamt circa eine Million Quadratmeter, von denen Aurelis als Grundstückseigentümer und Quartiersentwickler rund 670.000 entwickelt: das Europaviertel West. 100 Hektar innerstädtisch – es gibt nur wenige vergleichbar große Infrastrukturprojekte in Deutschland. Und es wurden verschiedene Überlegungen verfolgt, was man aus diesem Areal machen kann. Beispielsweise ist die damalige Bewerbung der Stadt Frankfurt für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012 zu nennen, in deren Rahmen hier Olympiastätten angedacht wurden.

Seit wann sind Sie mit dem Projekt betraut?
Adrian Jukic:
Die Ursprünge des Projekts gehen in die 1990er-Jahre zurück. Aurelis betreut das Europaviertel West seit der Gründung des Unternehmens 2002. So richtig los ging es 2008, als der letzte städtische Beschluss zum städtebaulichen Rahmenplan gefallen war. Seitdem bin ich dabei. Zu dem Zeitpunkt war das Gelände schon von sämtlichen Gleisen freigeräumt. Sie müssen sich vorstellen, dass hier früher über 80 Gleise nebeneinanderlagen. In den Spitzenzeiten des Güter- und Rangierbahnhofs wurden täglich bis zu 4.000 Waggons abgefertigt.
David Meyer: Ich habe seit 2003 mit dem Projekt zu tun, seit meinem ersten Arbeitstag bei Schüßler-Plan. Ich weiß noch, wie ich an meinem ersten Tag Varianten für einen Kreisverkehr ganz am Ende des Viertels entworfen habe. (lacht)

Bei solch einem Projekt sind verschiedenste Interessen im Spiel. Wie bekommt man sie unter einen Hut?
Adrian Jukic: Originäres Ziel der Grundstückseigentümer ist die Vermarktung der Grundstücke. Wir sind langfristig bei unseren Projekten engagiert und investieren erhebliches Kapital und Arbeit in die Herstellung von Straßen, Grünflächen und sozialer Infrastruktur sowie für die Errichtung von Schulen und Kitas. Bei diesem Projekt kam noch der Bau des Tunnels hinzu. Dem investierten Kapital und Entwicklungsrisiko muss ein angemessener Ertrag gegenüberstehen. Transparenz ist dabei ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wenn es im Projekt gegensätzliche Interessen gibt oder Sachverhalte von den Beteiligten verschieden interpretiert werden, so ist es wichtig, dies frühzeitig offenzulegen und ehrlich zu behandeln. Dann kann die Auseinandersetzung durchaus fruchtbar sein und zu einem besseren Ergebnis führen.
David Meyer: Die Stadt will in erster Linie ein lebenswertes Quartier, sie will Grünflächen, schöne Aufenthaltsorte, hohe Qualitäten bei Oberflächen und Ausstattung. Angrenzende Nachbarn, wie hier zum Beispiel die Messe Frankfurt oder die bestehenden Stadtteile, haben ebenfalls Bedürfnisse. Bis man einen Konsens hat, der für alle tragfähig ist, vergehen Jahre. Und dann vergeht noch einmal Zeit, bis das Baurecht geschaffen ist und es mit der Projektentwicklung losgehen kann.
Adrian Jukic: Nicht zu vergessen der gesetzlich vorgeschriebene Natur- und Artenschutz. Wir hatten hier auf dem Gelände zum Beispiel Mauereidechsen, eine geschützte Tierart. Diese wurden in größerem Umfang mit der Hand aus dem Schotter gefangen und in einen so genannten Ersatzlebensraum umgesiedelt. Zunächst war man der Meinung, die vorhandene Population dieser Mauereidechsen wäre überschaubar groß. Später waren es Tausende. Ein großes Thema – und ein erheblicher Aufwand mit viel zeitlichem Vorlauf.

In welchen Zeiträumen muss man bei solch einem Projekt planen?
Adrian Jukic: Anfangs war hier nur eine Brache, leeres Land, da muss der Hochbauinvestor dem Entwickler die Visionen glauben und Vertrauen haben. Das Areal ist so riesig, dass wir eine Projektlaufzeit von insgesamt 15 bis 20 Jahren haben. Unsere Kalkulation läuft bis circa 2020 und wurde mit der Zeit entsprechend den Entwicklungen fortgeschrieben. Wir haben im Europaviertel West Grundstücke mit bis zu 60, 80 und 100 Meter hohen Hochhäusern – und wir haben unterschiedliche Nutzungen wie Wohn- und Gewerbebau, außerdem Hotels. Derzeit haben wir noch einen Hype im Hochbau und eine große Dynamik. Am Anfang aber konnte niemand 15 bis 20 Jahre überblicken und treffsicher vorhersagen, wie sich eine Vermarktung entwickeln wird. Das macht unser Geschäft so komplex.

Woher rührt die Dynamik?
Adrian Jukic: Das liegt vor allem an den niedrigen Zinsen und dem Anlagedruck. Man investiert in Immobilien, in „Betongold“. Hinzu kommt, dass Frankfurt extrem schnell wächst. Mittlerweile sind es im Jahr 15.000 Zuzüge.
David Meyer: Man erkennt die Dynamik auch an der Zahl der Kräne, die hier gleichzeitig stehen. Wir haben sie mal gezählt, es waren locker an die 20 Stück.
Adrian Jukic: Ich zeige Ihnen mal, was Dynamik heißt (nimmt sein Tablet, zeigt Luftbilder vom Europaviertel). Hier, 2008, da sehen Sie noch gar nichts. (Wischt weiter, die Europaallee entsteht, die Bebauung ringsum, die Grünflächen, alles wie in Zeitraffer) Wir haben das Quartier binnen acht Jahren zur Baureife entwickelt und erschlossen, inklusive Straßen und Parkanlagen. Stand heute: Hier wohnen und arbeiten gut 13.000 Menschen. Von der möglichen Bebauung sind 75 bis 80 Prozent umgesetzt. In drei Jahren sind wir bei 100 Prozent.

Wie fängt man mit der Erschließung einer derart riesigen Fläche an?
David Meyer: Mit Planskizzen. Man muss sinnvolle Abschnitte entwickeln, einzelne Bau- und Realisierungsabschnitte festlegen. Wegen der Finanzkrise ließ sich auf einmal die Wohnbebauung sehr gut vermarkten – hierauf musste man auch mit der Umsetzung der Erschließung reagieren. Das war für alle Beteiligten eine Herausforderung. Die Gewerbeflächen, von denen wir dachten, dass sie sich früher vermarkten lassen, werden nun als letztes vermarktet.
Adrian Jukic: Und jetzt könnte man ohne Probleme noch eine weitere Vielzahl an Grundstücken entwickeln. Der Bedarf der Stadt und die Anfragen sind da!

Welches sind, Herr Jukic, Ihre Anforderungen an einen Dienst-leister wie Schüßler-Plan?
Adrian Jukic: Die Anforderungen an eine Quartiersentwicklung sind breit und vielschichtig. Man braucht neben dem fachlichen Know-how Flexibilität und Kreativität, um zum Beispiel auf kurzfristige Veränderungen zu reagieren. Kontinuität bei den Projektarbeitern und die Bewahrung des damit aufgebauten Projektwissens sind wesentliche Erfolgskriterien bei einer Projektlaufzeit wie hier. Und Schnelligkeit.

Haben Sie ein Beispiel, wann die gewünschte Flexibilität und Kreativität notwendig war, Herr Meyer?
David Meyer: Die U-Bahn U5, welche künftig das Europaviertel für den öffentlichen Personenverkehr erschließen wird, musste während der bereits laufenden Entwicklung des Quartiers in einem großen Teilabschnitt von einer komplett unterirdischen Trassen- zu einer ober-
irdisch geführten Stadtbahn umgeplant werden. Das war eine gewaltige Änderung, denn die Europaallee war schon in einzelnen Teilbereichen fertig oder gerade in der Fertigstellung. Dort, wo vier Fahrstreifen für Autos vorgesehen waren, sollten nun zusätzlich oberirdisch die Gleise hin. Der Straßenquerschnitt musste neu aufgeteilt und anders als geplant gebaut werden. In einem Teilbereich der Europaallee wurde die Veränderung sogar in die laufenden Erschließungsbaumaßnahmen eingespielt.
Adrian Jukic: Die Europaallee führt von beiden Seiten bis zum 60.000 Quadratmeter großen Europagarten, dort verläuft sie unterirdisch. Auch der Tunnel unter dem Europagarten ist ein gutes Beispiel für Kreativität. Ein Kombinationsbauwerk, in dem sowohl Autos als auch die Stadtbahn fahren. Eigentlich sollte es zwei Bauwerke geben: einen Autotunnel – durch Aurelis herzustellen – und daneben einen autarken für die U-Bahn, den die Verkehrsgesellschaft Frankfurt erbringen sollte. Wir waren in der Ausführungsplanung für den Autotunnel schon recht weit, aber dann kam die Änderung, dass aus der U-Bahn eine Stadtbahn wird.  
David Meyer: Das war eine Herausforderung – eine Kombination von Auto und Stadtbahn innerhalb eines Bauwerks. Aus Sicherheitsgründen mussten Auto- und Stadtbahnröhre getrennt werden. Es galt zu verhindern, dass zum Beispiel ein Lkw in die Stadtbahntrasse gerät. Deshalb baute man durchlaufende Wände hinein, eine Forderung aus dem Brandschutz. Das Bauwerk ist ein echtes Unikat.

Ein Begriff der Stunde ist Nachhaltigkeit. Inwiefern ist das Europaviertel ein Beispiel für nachhaltige Stadtentwicklung?
Adrian Jukic: Das Viertel versiegelt kein Grün am Stadtrand, sondern revitalisiert eine ungenutzte Brache. Es besteht zu einem Drittel aus Grünflächen. Es ist gut an den Öffentlichen Personennahverkehr angebunden. Dies sind nur einige Gründe, warum das Europaviertel West von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – kurz DGNB – als nachhaltiges Stadtquartier zertifiziert wurde. Die DGNB wurde 2007 gegründet, um unter anderem nachhaltiges Bauen zu fördern. In der Folge sah die DGNB auch eine Zertifizierung für Stadtquartiere vor, und als dieses Pilotprojekt aufgesetzt wurde, haben wir als deutschlandweit aktiver Quartiersentwickler mitgemacht. Im Januar 2012 bekamen wir die Zertifizierung für das Europaviertel West – und zwar gleich die höchste Auszeichnung. Wir hatten beim Projektbeginn in unseren Planungen selbstverständlich nicht ahnen können, welche 50 Kriterien für eine Zertifizierung einmal entscheidend sein würden. Dennoch konnten wir die aktuellen Nachhaltigkeitskriterien erfüllen und damit zeigen, dass wir in dem Projekt vorausschauend nachhaltig agiert haben. Wir waren eines der ersten Quartiere in Deutschland, die das höchste Gütesiegel erhielten.

Wenn Sie zurückblicken auf die Anfänge des Projekts, haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Adrian Jukic: Wenn wir uns heute unsere Visualisierungen von früher anschauen, dann ist unsere damalige Version sehr nah an dem, was wir realisiert haben. Unabhängig von der Umsetzung der Planung braucht ein neues Quartier selbstverständlich auch seine Betriebszeit, eine gewisse Patina, welche das Flair entstehen lässt und das Besondere ausmacht: mit den Aufenthaltsqualitäten und den wachsenden Angeboten im Quartier, mit der Gastronomie und Geschäften in den Erdgeschosszonen, mit den Bäumen, die groß werden, mit der Belebung des öffentlichen Raums, mit den Bewohnern und Nutzern, die dazukommen. Das urbane Leben entwickelt sich von Jahr zu Jahr weiter. Unser Projektteam mit seinen externen Dienstleistern war von Anfang an mit Herzblut dabei und hat alles dafür getan, dass ein für die Stadt und die Nutzer spannendes und nachhaltiges Quartier gelingt.
David Meyer: Unsere Erwartungen haben sich ebenfalls voll erfüllt. Das Projekt Stadtbahn wird uns noch eine Weile begleiten. Die Inbetriebnahme ist laut dem aktuellen Zeitplan für 2023 geplant. Dann werde ich ziemlich genau 20 Jahre am Europaviertel mitgearbeitet haben – seit meinem ersten Arbeitstag bei Schüßler-Plan. Ich denke, wenn das Quartier fertig gestellt ist, wird mir etwas fehlen.

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