„Viele Menschen, die anfangs dagegen waren, haben heute eine Monatskarte“

Ortstermin City-Tunnel, Leipzig

Treffpunkt Station Markt: Michael Menschner, Dr. Thomas Schmiers, Walter Stein und Bernd Wagenbach (v. li.)
In der Innenstadt von Leipzig, in einem Lokal an der S-Bahn-Haltestelle Markt, treffen sich zum Gespräch: Walter Stein, ehemals Geschäftsführer der Planungsgesellschaft S-Bahn-Tunnel Leipzig GmbH, heute im Ruhestand. Michael Menschner, damals sein leitender Ingenieur, heute zuständig für Großprojekte bei DB Netz. Bernd Wagenbach, Geschäftsführer Schüßler-Plan. Und Dr. Thomas Schmiers, Niederlassungsleiter Sachsen/Thüringen und Prokurist Schüßler-Plan. Themen: die Vorzüge des Bauens in der Wende-Zeit, die eigentümliche Konstellation der Gesellschafter und die in Rekordzeit absolvierte Planfeststellung


Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es erste Planungen für einen Bahntunnel unter der Leipziger Innenstadt. Unter dem Namen „City-Tunnel Leipzig“ wurde er 2013 in Betrieb genommen. Fühlen Sie sich als Vollender eines historischen Prozesses?
Walter Stein: Ja, auf jeden Fall. Ich erinnere mich, wie der Tunnel schon im Gespräch war, als ich 1967 bei der Stadtverwaltung anfing. Nachträglich kann man sagen: Gut, dass wir ihn damals nicht gebaut haben, sonst gäbe es die Station Markt nicht. Das haben uns erst später die westdeutschen Kollegen empfohlen: Das Wichtigste ist die Station unter dem Markt, mitten in der Stadt, da muss man ein- und aussteigen können. Das war der große Vorteil, dass wir den Bau erst nach der Wende und mit Unterstützung von Büros aus dem Westen in Angriff nahmen: Wir konnten einen optimalen Tunnel bauen. Ich wüsste jedenfalls nicht, was man hätte besser machen können.

In einer Broschüre der Bahn von 2004 steht: Der City-Tunnel Leipzig ist das Herzstück des mitteldeutschen S-Bahn-Netzes. Gilt der Satz nach wie vor?
Michael Menschner: Wenn es in einer Bahnbroschüre steht, ist es grundsätzlich richtig. (lacht) Aber Scherz beiseite: Der Satz stimmt unverändert. Übrigens sind die ersten Ideen für die Verbindung noch viel älter. Schon als 1842 im Süden von Leipzig der Bayerische Bahnhof eröffnet wurde, hatte man die Idee, dass es eine Bahnverbindung zwischen Süden und Norden geben müsste. Gut war, dass dann kluge Leute in den 1990er-Jahren sagten: Jetzt gehen wir es an. Eine mutige Entscheidung. Umfragen zufolge betrug die Zustimmung zeitweise nur ein knappes Viertel. Es war frappierend – fast alle waren dagegen.

Warum?
Walter Stein: Die meisten konnten mit dem Bau nichts anfangen. Er kostete viel Geld, außerdem dachte man: Geht doch auch so!
Bernd Wagenbach: Den Leipzigern Anfang der 90er-Jahre zu erklären, dass wir ihren Marktplatz aufreißen, war eine heikle Sache. Man hatte Angst vor fünf, sechs Jahren Bauzeit. Die Projektverantwortlichen betrieben mit einer beispielhaften Energie Öffentlichkeitsarbeit. Mit der Folge, dass bald darauf eine breite Akzeptanz da war.
Walter Stein: Wir luden zum Beispiel die Bürgerinitiativen, die sich gegen den Tunnel gebildet hatten, in unsere Planungsgesellschaft ein. Die Bürgerinnen und Bürger hatten die Befürchtung, dass die Stadt am Ende viel Geld zuschießen muss. Wir haben die Befürchtungen mit ihnen solange besprochen, bis sie beruhigt waren und sagten, gut, dann stellen wir den Protest ein. Was inzwischen leider etwas untergegangen ist: Der ganze Bau wäre nicht möglich gewesen ohne die folgenden Hauptmatadore: Georg Milbradt, sächsischer Ministerpräsident und damaliger Finanzminister, Kajo Schommer, Wirtschaftsminister, Wolfgang Tiefensee, Leipziger Oberbürgermeister, sowie sein Vorgänger.
Dr. Hinrich Lehmann-Grube: Die entscheidende Frage war ja die Finanzierung. Es war möglich, dass das zunächst kalkulierte Geld nicht ausreichen würde. Daraufhin hat der Freistaat Sachsen den Beschluss gefasst, dass er die etwaigen Mehrkosten zahlt. Nur so konnte der Bau gelingen.

Bei einem derartigen Großprojekt gibt es fast immer Unwägbarkeiten und Planänderungen. War das auch hier der Fall?
Michael Menschner: Wir haben das Projekt so umgesetzt, wie es in der Planfeststellung beschrieben war. Da gab es keine grundsätzliche Abweichung. Eine Besonderheit gab es insofern, als der Freistaat Sachsen sagte: Ich kann mir den Bau gut vorstellen, möchte aber eine andere Konstellation unter den Bauausführenden. Deshalb hat ab 2003 die DEGES – die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, in der heute die meisten Bundesländer Gesellschafter sind – wesentliche Teile realisiert. Sie bekam vom Freistaat Sachsen den Auftrag unter anderem für den Tunnelrohbau. Die Bahn hat sich dann darauf beschränkt, die bahnspezifischen Teile zu bauen.
Thomas Schmiers: Die DEGES hat die gesamte knapp 5.300 Meter lange unterirdische Verkehrsanbindung gebaut. Von den Gesamtkosten in Höhe von knapp einer Milliarde Euro fielen mehr als zwei Drittel auf die DEGES. In einer solchen Konstellation von Gesellschaftern hat es ein Bauprojekt meines Wissens noch nicht gegeben.
Bernd Wagenbach: Das wird es so auch nicht mehr geben. (lacht)

Woran liegt das?
Michael Menschner: Weil man, wenn man es auf die beschriebene Weise macht, unweigerlich Probleme bekommt. Die Idealvorstellung ist: Die DEGES macht den Rohbau, und dann kommt die Bahn und baut ihre für den Bahnbetrieb erforderliche technische Ausrüstung hinein. Die tatsächliche Situation war eine andere: Die DEGES hat geplant, aber dann war es aus Zeitgründen nötig, dass beide Parteien zugleich bauten, die DEGES und die Bahn. Die Pläne waren teilweise stundengenau abgestimmt. Das war eine große Besonderheit: Zwei Gesellschafter machen parallel Dinge, bei denen es zu Konflikten kommen muss. Andererseits gab es keine Alternative. Der Freistaat sperrte sich dagegen, dass die Bahn den Tunnelrohbau macht, da hier die größten Baurisiken zu vermuten waren und Sachsen diese Risiken zum großen Teil trug. Da profitieren wir doch lieber von den guten Erfahrungen der DEGES, sagte sie, die machen die Straßen immer so schön. Aber eine Bahnlinie mitten unter der Stadt ist keine Autobahn. Das mussten die Beteiligten im Laufe des Prozesses feststellen.

Herr Wagenbach, was ist aus Ihrer Sicht die Besonderheit bei diesem Projekt?
Bernd Wagenbach: Die Planfeststellung. Die Pläne kamen von uns. Aber was dann folgen muss, die Arbeit vor Ort, das Überzeugen, ist eine andere Geschichte. In meiner beruflichen Laufbahn habe ich kein einziges Bauvorhaben in Deutschland kennengelernt, bei dem es so wenige Einsprüche gab.
Thomas Schmiers: Die Ordner mit den Planfeststellungsunterlagen waren relativ übersichtlich.
Bernd Wagenbach: Heute fertigt man die Unterlagen in einer Ausführlichkeit an, dass die Tische nicht ausreichen, um sie auszubreiten.
Walter Stein: Ja, das war gleich nach der Wende, da ging das noch. (lacht) Diese Zeiten gibt’s heute nicht mehr. Die Bundesstraße B2 zur Erschließung der Neuen Messe: ohne einen Einwand! Wir, also die 1996 gegründete S-Bahn-Tunnel Leipzig GmbH, hatten den Riesenvorteil, dass uns viele das Projekt nicht zugetraut hatten. Wir waren nie mehr als zehn Mitarbeiter. Eine kleine Truppe, die, weil man uns unterschätzte, weitgehend unabhängig arbeiten konnte. 50 Millionen D-Mark haben wir in die Planfeststellung investiert, bis zum Baubeginn im Jahre 2003, als die GmbH aufgelöst wurde.
Michael Menschner: Im November 1998 hatten wir den Planfeststellungsantrag eingereicht. Im Mai 2000 war der Vorgang unter Dach und Fach. Für ein derart komplexes Projekt!

Was war das technisch Anspruchsvollste an dem Bau?
Michael Menschner: Aus meiner Sicht: die Gebäudesicherung. Wir haben in der Innenstadt 60 historische Gebäude unterfahren. Zusammen mit Schüßler-Plan haben wir uns frühzeitig für ein Bauverfahren entschieden, bei dem über eine Vorverfestigung des Bodens Stabilität erzielt wird. Das Verfahren wurde vorher vielleicht mal punktuell bei einer Gebäudeschiefstellung angewendet. Hier kam es flächendeckend zwischen Hauptbahnhof und Leuschnerplatz zum Einsatz. Wir bohrten 15 Schächte, hatten Rohrleitungen von bis zu 50, 60 Metern Länge. Das war planerisch, ingenieurtechnisch und in der Umsetzung eine gewaltige Herausforderung. Unter anderem deshalb, weil wir in die Gebäude vorher hineinmussten und manche Eigentümer uns nicht ließen. Die Maschine stand am Leuschnerplatz, verschiedene Eigentümer kamen mit dem Anwalt, und dann konnte die Maschine erst einmal nicht weiterfahren. Der Erfolg gab uns letztlich recht. Es gab im gesamten Innenstadtbereich keine größeren Beschädigungen.

Was hat der Bau in der Stadt bewirkt?
Walter Stein: Es war Wahnsinn, schlicht und ergreifend. Für die gesamte Region, aber auch für das Image der Stadt. Allen Verantwortlichen war klar, dass der Bau einen mächtigen wirtschaftlichen Schub bringt. Und genau so ist es gekommen.
Thomas Schmiers: Der City-Tunnel dürfte eines der wenigen Verkehrsprojekte im Osten sein, bei dem sich die Verkehrsprognosen erfüllt haben beziehungsweise: Sie wurden sogar übertroffen.

Ihre liebste persönliche Erinnerung?
Thomas Schmiers: Ich habe viele Bahnprojekte auf der sprichwörtlichen grünen Wiese betreut. Sie sind oft so komplex, dass sich Nicht-Fachleuten nur schwer vermitteln lässt, was man da genau macht. Hier habe ich mal ein Projekt, das ich vorzeigen kann. Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr lade ich Verwandtschaft und Bekanntschaft ein, und dann geht’s zum Hauptbahnhof, Tageskarten kaufen. An jeder Station steigen wir aus, und dann erzähle ich etwas darüber. Über eine Autobahn fährt man hinweg. Hier kann man stehen bleiben und eine Menge erklären.
Bernd Wagenbach: Im Rückblick geht alles so schnell. Man nimmt sich vor, eine Fertigstellung gebührend zu begleiten, aber dann ist schon das nächste Projekt da. Heute stehe ich hier in den Stationen, und mir fallen sofort die Gedanken ein, die ich damals hatte, zum Beispiel zur Linienführung. Das macht schon ein bisschen stolz.
Walter Stein: Der Tag der Inbetriebnahme des Tunnels war zugleich mein letzter Arbeitstag. Man kann also sagen: Da schloss sich ein Kreis. Denn als ich bei der Stadt anfing, war, wie ich anfangs erwähnte, der Tunnel bereits in Planung. Das Projekt war haargenau für mich gemacht.
Michael Menschner: Eine meiner liebsten Erkenntnisse: Ein halbes Jahr nach der Fertigstellung konnte sich kein Mensch mehr vorstellen, dass es den Tunnel nicht gibt. Die Macht des Faktischen! Viele Menschen, die damals dagegen waren, haben heute seit Langem eine Monatskarte.

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